Warst du schonmal beim Kirtan?
Wer sich nicht intensiv mit Yoga beschäftigt, hat das Wort Kirtan wahrscheinlich noch nie gehört. Kirtan ist ein Teil des Bhakti-Yoga, des Yogas der Hingabe. Es geht um das Singen von Mantras, wobei dies in der sogenannten Call and respond-Form passiert. Das heißt, eine Person (der Wallah) singt eine Zeile des Mantras vor und die Zuhörer singen sie nach. Es gibt keine Kluft zwischen dem Wallah und den Zuhörern. Vielmehr ist es das erklärte Ziel eines Kirtans, dass Wallah und Zuhörer eine Einheit bilden.
Ein Kirtan kann ganz ruhig sein, nur von einem Harmonium begleitet, oder auch ganz laut, mit vielen wunderbaren Instrumenten wie Trommeln, Zindeln, Geigen und Gitarren. Manchmal ist es ganz meditativ, manchmal endet es in ekstatischem Tanz. Beim Kirtan verbinden wir uns mit der Energie der Menschen um uns herum und unserer eigenen. Wir nehmen die Energie der Mantras auf, die wir singen, wobei diese meist einer hinduistischen Gottheit gewidmet sind. So praktizieren wir Hingabe an das Göttliche, auch an das göttliche in uns.
Für mich ist Kirtan aber noch viel mehr. Durch Kirtan habe ich wieder entdeckt, wie wundervoll es ist zu singen.
"Ich kann nicht singen!"
Wie oft ich diesen Satz gesagt habe in meinem Leben kann ich gar nicht zählen. "Wenn ich singe, werden Tote wach!" war auch gern mal die Erwiderung auf die Aufforderung beim Karaoke mitzumachen. Ich war Jahrzehnte fest davon überzeugt, dass es so ist. Aber woher kam eigentlich dieser Glaubenssatz? Da ich es mir ja nie erlaubte zu singen, konnte ich es doch garnicht wissen.
Ich habe lang darüber nachgedacht. Irgendwann erinnerte ich mich dann an eine Situation in der Schulzeit.
Auf dem Gymnasium habe ich im Chor gesungen. Zu Beginn haben wir noch alle gemeinsam gesungen. Relativ rasch sollten wir aber dann vorsingen, um herauszufinden, welche Stimmlage wir haben. Meine Freundin in der Schule war ein Sopran und ich war mächtig stolz auf sie. Dann war ich an der Reihe. Mit feuchten Händen und bebender Stimme habe ich vorgesungen. Und anstatt meine Stimmlage gesagt zu bekommen, hat mich die Lehrerin mit den Worten: "Du gehts besser wieder nach hinten" bedacht. Das war das letzte mal, dass ich beim Chor dabei war. Und auch das letzte mal, dass ich vor Menschen gesungen habe. Und es ging sogar noch weiter. Ich habe mir nicht einmal erlaubt, mit mir allein zu singen. Kein schallernder Gesang im Auto oder unter der Dusche. Nee, besser nicht.
"Ich kann nicht singen!" war wie ein Mantra, dass ich immer wieder aufgesagt habe, bis es sich wie die Wahrheit in meine Seele eingebrannt hat.
Bhakti hat mich gerettet!
In der Yogalehrer-Ausbildung wurde ich dann gerettet. Jedes Ausbildungswochenende haben wir zusammen Bhakti-Yoga praktiziert und gesungen. Erst war es mir auch hier noch unmöglich, mitzumachen. Aus Scham, dass es auffällt, habe ich immer nur die Lippen bewegt. Irgendwann haben sich die Mantras dann aber den Weg aus meinem Kopf in mein Herz gebahnt und ich konnte nicht mehr anders, als sie zu singen. Zu Beginn nur ganz leise, aber mit der Zeit konnte ich die Energie, die das Chanten der Mantras erzeugte, nicht mehr zurück halten und es brach aus mir heraus. Ich konnte beim Singen so viele Emotionen wahrnehmen. Freude, Traurigkeit, Wut, Ärger, Liebe...alles mischte sich zu einem riesigen Potpourri an Gefühlen zusammen und brach unter der Oberfläche hervor. Anfangs hat mich das völlig überfordert, mittlerweile genieße ich dieses Gefühl. Ich genieße es, in die Emotionen einzutauchen, sie anzusehen und zuzulassen. Alle sind da, alle dürfen sein. Alle sind ich!
Kirtan-Junkie
Heute bin ich nahezu süchtig danach in einer Gruppe mit Gleichgesinnten zu singen. Ich nutze jede Gelegenheit einen Kirtan zu besuchen. Die Verbindung mit der Gruppe und mit mir selbst ist so wesentlich geworden für meine spirituelle Entwicklung.
Ich bin ein anderer Mensch geworden dadurch, dass ich mir die Erlaubnis gegeben habe, dieses wundervolle Instrument, meine Stimme mit anderen zu teilen und so eins zu sein, mit allen die sind. Hört sich ziemliche eso an, oder? Ist aber so.
Jetzt fragst du dich sicher, ob ich denn jetzt nun singen kann oder nicht.
Jeder kann singen!
Meine Stimme ist sicher nicht die einer Opernsängerin. Wahrscheinlich treffe ich noch nicht einmal jeden Ton. Aber das ist auch völlig egal. Es geht nicht darum, die beste zu sein, es geht darum es überhaupt zu tun. Singen ist kein Wettkampf, singen ist Verbindung mit Emotionen. Singen ist Heilung. Und singen kann meiner Meinung nach wirklich jeder.
Wenn es dir geht wie mir, wenn du es dir bis jetzt auch immer verbietest, in der Öffentlichkeit zu singen, möchte ich dich einladen, es einfach mal zu versuchen. Schau, wo der nächste Kirtan in deiner Nähe stattfindet und geh einfach hin. Du musst auch gar nicht beim ersten mal mitsingen. Sitze einfach nur, mach die Augen zu und lass die Energie wirken. Und dann geh nochmal...und nochmal. Ich verspreche dir, es funktioniert. Der wundervoll geschützte Raum bei einem Kirtan, wo nur Menschen sind, die dir Gutes wollen, wird es dir irgendwann ermöglichen, Teil davon zu sein.
Ich bin unendlich dankbar, dass ich diesen Glaubenssatz für mich auflösen konnte und wünsche dir, dass es dir auch gelingt.
Stay in balance,
Nadine